Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

STURMRITT ÜBER DIE ELBMÜNDUNG
Einige Tage hatte Sturm aus Südwest dicke Regenwolken auf die Küste getrieben. Wie nasse Schleppen waren sie tiefhängend über Watt und Deich gestrichen. Dann war der Wind auf Nordwest umgesprungen und hatte den Himmel rein gefegt. Und nun strahlte die blendende Sonne. Von der See her fächelte eine sanfte Brise, die das Wasser kräuselte.
Hinter dem hohen Bollwerk der "Alten Liebe" in Cuxhaven kam ein Lotsenkutter hervor, der auslief. Auf dem fernen Strich des Horizontes standen einige zarte Rauchfahnen. Ein Fischdampfer kam auf. Mit der frischen Luft wehte von der See der Geruch von Tang und Seegras, von Fisch und Muscheln. Das dumpfe gleichmäßige Pochen der vorüberfahrenden Motorfischerboote klang herüber.
Auf den Rasenflächen vor dem Deich, unmittelbar hinter der steinernen Uferbefestigung, gegen die die kleinen Wellen der steigenden Flut spielten, lagen drei Faltboote. Zwei junge Männer saßen mit untergeschlagenen Beinen auf einer Wolldecke und hatten eine große Seekarte zwischen sich aufgerollt. Ein schlankes Mädchen stand hinter ihnen und beugte sich prüfend vor.
"Welch sonderbare Namen darauf stehen!" rief sie. "Großer und Kleiner Vogelsand, Scharhörn, Knechtsand, Robbenplate, Hundebalje!"
"Ja, und hier: Wittsand, Hohenhörn, Falsches Tief. Sie klingen so fremdartig, fast unheimlich", antwortete Heio. "Diese urwüchsige Romantik hat einen verdammt ernsten Hintergrund", sagte Jan und deutete auf zahlreiche kleine Dreiecke, die auf den vorgeschobenen Sandbänken des Wattenmeeres verzeichnet waren. "Das sind alles Wrackzeichen! Die Sande draußen sind die reinsten Schiffsfriedhöfe! Bei Sturm muß dort eine fürchterliche See toben."
"Und da hinaus wollen wir? Eigentlich ein bißchen frech, nich?" meinte Inge.
"Bist du bange?" fragte Jan. Sie schwieg empört. "Na", fuhr er fort, "Heio hat ja mittlerweile seine geographische Examensarbeit über das Wattenmeer gemacht und ist zweimal allein wochenlang auf Trischen gewesen, da muß er eigentlich so viel gelernt haben, daß uns nicht viel passieren kann. Du kannst uns übrigens gern mal ein bißchen davon erzählen, bis die Ebbe eintritt und wir abfahren können!" Heio hatte sich zurückgelegt und ließ sich die Sonne auf die geschlossenen Lider scheinen. Inge zupfte ihm die Grasnelke aus dem Munde, die er zwischen den Zähnen hielt. "Los! Erzählen!" kommandierte sie.
"Ach, was ist da viel zu erzählen?" begann er mit geschlossenen Augen. "Ich baute in dem kleinen Krabbenfischerhafen von Friedrichskoog meinen Einer auf und schipperte trotz der Warnung der Fischer gegen den Strom nach Trischen. Es war verdammt kalt, denn es war ja noch sehr früh im Jahre. Aber es war herrlich, so ganz allein in die Weite zu fahren. Der Wind blies frisch, und von einer Pricke zur andern tastete ich mich an den Wattrücken entlang. Aber durch den Gegenwind und die dauernden kleinen Spritzer war alle Augenblicke meine Brille so mit Salzwasser verkrustet, daß ich sie wieder putzen mußte. Dabei trieb ich dann jedesmal ein großes Stück zurück, daß ich kaum noch vorwärts kam. Da nahm ich die Brille ab, um nur weiterzukommen.
Einmal prustete es neben mir, und ich sah einen großen runden Kopf auftauchen mit menschlichen dunklen Augen. Ich war im ersten Augenblick maßlos erschrocken und hielt sofort im Paddeln inne. Mir schossen Gedanken an den Waterkerl unserer friesischen Sagen durch den Sinn. Einen Augenblick betrachtete mich der Kopf, um dann lautlos in der Flut zu versinken. Es war ein Seehund, aber die Vorstellung eines menschenähnlichen Meergeistes war ganz deutlich und ohne allen Spott in mir. Man bekommt wirklich sonderbare Gedanken, wenn man da draußen so stundenlang allein in der Urwelt der Watten ist."
Er schwieg, und alle drei schauten hinüber über die Elbmündung. Da drüben lagen die Nordergründe, auf denen sie sich vor mehr als einem Jahr festgefahren hatten. Sie dachten an jene unheimliche Nacht auf dem Watt, an die Angst des Verlorenseins, an das Meerleuchten in der aufkommenden Flut und an das Unwetter des Morgens.
"Nun! Nach einiger Zeit, als es schon Abend wurde", fuhr Heio fort, "tauchten endlich die niedrige Dünenkette und die Bake von Trischen hinter der Kimmung auf. Als ich näher kam, sah ich dann auch die mächtige Sandbank vor mir liegen. Ich fuhr durch die Mündung des Wattstromes in die offene See und landete an der Seeseite der Insel in der Brandung. Sie war erfreulicherweise nicht allzu heftig, so daß ich nur wenig naß wurde.
Als ich mein Boot auf den Strand schleppte und frierend ziemlich erschöpft hinter der Düne mein Zelt aufbauen wollte, erschien plötzlich ein Mann, der allen Ernstes verlangte, ich solle sofort wieder abfahren. Das Betreten der Insel sei verboten, sie sei Vogelschutzgebiet und er habe Polizeigewalt. Sodann erschien ein zweiter Mann, der der Pächter einer kleinen Grünlandfläche hinter der Düne war, und verlangte dasselbe, und schließlich kam ein dritter, der sich als Domänenrentmeister vorstellte und, als er hörte, ich sei Student, es mit der Angst bekam, ich könne in sein "Ressort" pfuschen.
Aber schließlich entpuppten sich die drei als durchaus menschlich. Besonders die ersten beiden nahmen mich liebend unter ihre Fittiche. Ich bekam Milch und Dithmarscher Klöße und Mehlbüdel von dem Pächter.
Der Vogelwart streifte stundenlang mit mir durch sein Reich und zeigte mir bald hier bald da eine Nestmulde zwischen den Strandhaferhalmen. Vor allem nisteten dort Seeschwalben mit den spitzen gabeligen Schwänzen, die oft in ganzen Wolken in der Luft einen ohrenbetäubenden, hellen, kreischenden Lärm vollführten und immer wieder auf uns niederstießen. Der Vogelwart machte dort Beringungsversuche und zählte jedes Jahr die Anzahl der verschiedenen Arten. Richtig hab' ich das alles erst bei meinem zweiten Besuch, der später im Jahr lag, kennengelernt. Es ist allerliebst, die Jungvögel zu beobachten, die schon kurze Zeit nach dem Schlüpfen zwischen den Sandrippeln, den Strandhaferhalmen und den Muschelschalen herumlaufen. Kommt man allzu nahe, so ducken sie sich zu Boden und verhalten sich still, und so täuschend ähnelt ihr dunkel getupftes Daunenkleid dann irgendeiner Bodenunebenheit oder einem Steinchen, daß man sie selten erkennen kann.
Nun, außerdem machte ich weite Fahrten und Wanderungen zu Fuß und mit dem Boot über die umliegenden Watten und Sandbänke, photographierte, machte Kartenskizzen und Notizen, sammelte Schlick- und Sandproben und Muscheln und Schnecken, und ganz allmählich entstand so in mir ein Bild von dem Werden dieser mächtigen Wattlandschaft zwischen Trischen und Friedrichskoog und dem organischen Zusammenhang ihrer Teile. Das niederzulegen und verständlich zu machen, war der Sinn meiner Arbeit. Aber das muß man erleben, das kann man schlecht erzählen!"
Während sie wieder über die weite Wasserfläche starrten, wo hinter der Kimm irgendwo die Bake von Trischen aufragen mußte, sagte Jan plötzlich: "Weißt du übrigens, daß ich dich bei deinem zweiten Trischenaufenthalt besuchen wollte?" Heio wandte sich ihm erstaunt und kopfschüttelnd zu.
"Ja", fuhr Jan fort, "ich hatte einen süddeutschen Faltbootfahrer an der Uni kennengelernt und wollte dem bei der Gelegenheit die Nordseeküste zeigen. Wir fuhren die Elbe abwärts bis Cuxhaven. Als wildwassergewohnter Fahrer der schäumenden Alpenflüsse sprach er zuerst sehr geringschätzig von unseren norddeutschen Gewässern, aber in der Elbmündung wurde er doch still. Von Altenbruch nach Cuxhaven war es übel. Wir hatten ziemlich Gegenwind und kamen gegen hohe Wellen, über die unsere Boote gleichsam hinüberklettem mußten, nur langsam vorwärts. Auf der 'Alten Liebe' stand eine aufgeregte Menge, die uns neugierig beobachtete und darauf wartete, daß wir kenterten. Wir taten ihnen aber nicht den Gefallen und landeten dort drüben hinter der Buhne. Dann ergänzten wir unsere Vorräte und überlegten, ob wir die Elbmündung queren sollten.
Zwar zeigte der Windsemaphor auf der 'Alten Liebe' für Helgoland Windstärke 7; aber so schlimm schien es uns gar nicht. Gewiß wehte ein frisches Lüftchen, und draußen waren auch ein paar Wellenkämme zu sehen; aber hier am Strand schien es doch kaum bewegt.
Wir dachten an keine Gefahr, als wir abfuhren. Außerdem rechneten wir damit, daß mit der aufkommenden Flut Wind und Strömung gleiche Richtung haben und infolgedessen der Seegang geringer werden würde. Ihr wißt ja, daß die Wellen dann besonders hoch sind, wenn der Wind gegen den Strom steht. So fuhren wir bei Niedrigwasser ab. Wir hatten prächtigen Rückenwind und waren im Handumdrehen weit vom Ufer entfernt.
Plötzlich spürte ich, daß hier draußen doch ein ganz ansehnlicher Wellengang herrschte. Mit einem Male begriff ich: Wir hatten bisher noch Schutz vom Land gehabt, denn wir waren im Windschatten gestartet. Aber hier draußen konnte der Wind immer stärker anpacken. Und er nahm noch ständig zu. Windstärke 7 war doch erheblich stärker, als ich erwartet hatte.
Nun zeigten sich schon Schaumkämme auf den Wellen. Grüne, rollende gläserne Berge waren es, die sich da hinter uns drohend aufhoben. Mit wehenden Schaumkronen rauschten sie heran und nahmen uns dann schiebend auf die hohe Schulter, bis wir wieder in ein tiefes Wellental hinuntersanken, während die Woge weiterbrauste. Ein verdammt unbehagliches Gefühl! Oft sahen wir gar nichts voneinander, bis dann auf dem Kamm einer Woge das Faltboot meines Kameraden auftauchte und ich in ein angespanntes und schreckerfülltes Gesicht sah. Nur auf den Gipfeln der Wellen konnten wir Umschau halten; dann ging es jedes Mal wieder in die Wellentäler hinab, in denen wir bloß schaumstreifige Wasserberge vor uns und hinter uns hatten.
Vom Rücken einer Riesenwelle erkannte ich plötzlich etwas, was mich mit tiefem Entsetzen erfüllte: Wir trieben direkt auf den Medemsand zu, auf dem eine donnernde weißgischtende Brandung stand. Ich brüllte in das Sausen des Windes und in das Rauschen des Wasser: Umkehren! Aber mein Kamerad vernahm es nicht oder verstand es nicht.
Es war auch ein völlig unmögliches Unterfangen. Als ich versuchte, mein Boot zu wenden, gelang es mir kaum. Gegen Wind und Wellen anzufahren, war ganz aussichtslos. So versuchten wir, wenigstens an dem Medemsand vorbei zu gelangen.
Aber es war schon zu spät. Mitten in die weiß aufspritzenden Brecher trieben uns Wind und Wellen. Ich gab das Paddeln auf und versuchte nur krampfhaft, das Boot vor dem Kentern zu bewahren.
Plötzlich - es war eben ein schwerer Brecher über mich hinweggerauscht, und ich hatte mir gerade das Salzwasser aus dem Gesicht und von der Spritzdecke gewischt - steilte unvermutet sofort hinterher ein zweiter noch höherer Brecher hinter mir auf, warf mich in Sekundenschnelle quer und brach mit grüngläsemer Wölbung brausend über mir zusammen. Instinktiv hatte ich mich direkt in ihn hineingeworfen, und es gelang mir - was ich wirklich nicht zu hoffen gewagt hatte -, mich durch Paddeldruck wieder aufzurichten.
In diesem Augenblick erschien auf dem Wellenkamm über mir das Boot meines Kameraden, der schreckensbleich zu mir herüberstarrte, ohne zu paddeln.
Ich riß mein Boot wieder in die alte Richtung. Wir kämpften Stunde um Stunde. Das Wasser rieselte mir durch die Öljacke und rann mir darunter auf der bloßen Haut in die Sitzluke. Mehr als einmal fürchtete ich, daß mir die Spritzdecke eingeschlagen würde oder daß ich doch noch kentern müßte. Aber endlich waren wir über den Medemsand und über den fast ebenso gefährlichen Rand der Nordergründe hinweg. Auf dem Watt war es nicht mehr ganz so schlimm, aber dafür waren die Wellen kurz und scharf und steil. Hier und da ragten noch die Köpfe der Pricken aus der graugelben schäumenden Flut. Wir wurden scheußlich naß.
Schließlich erreichten wir, total erschöpft, das Dithmarscher Vorland. Es war Sturmflut, und das ganze Vorland stand unter Wasser, so daß die Wellen am Seedeich emporliefen, an dem wir unmittelbar landen konnten - besser müßte ich sagen: angespült wurden. Wir waren natürlich froh, diese Geschichte lebend überstanden zu haben, aber mein Bayer hatte jede Lust zu einer weiteren Paddelei auf der Nordsee verloren. Ich konnte das fast verstehen und bin mit ihm dann auf dem Landweg zurückgefahren."

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