Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

DER TAUCHERKAPITÄN
Heio und Inge hatten dem Bericht gespannt zugehört. "Mensch, da bist du ja am gleichen Tag wie ich über die Elbmündung gefahren, nur in umgekehrter Richtung!" sagte Heio und erzählte: "Damals stand an der Außenseite Trischens eine scheußliche Brandung. Es war für mich völlig unmöglich, abzupaddeln. So hatte ich ausgedehnte Streifzüge über den weiten Sand gemacht, hatte die Möglichkeiten der Dünenbildung studiert und Beobachtungen über das Wandern dieser riesigen Sandbank angestellt. Sie wird durch Wind und Sturmbrandung nach Osten über das hinter ihr liegende schlickige Watt hinweggespült, das in dunklen verfestigten Schlickschichten an der Brandungsseite unter dem weißen Sand wieder hervorkommt.
In den Februarstürmen war draußen auf der Plate ein Finkenwerder Fischkutter gestrandet, der von See kommend bei unsichtigem Wetter die Einfahrt in die Elbmündung verfehlt hatte und in das Falsche Tief geraten war. Er bekam zudem noch Ruderschaden und wurde dann von den Grundseen und der Brandung gepackt und hoch auf die Sandbank geworfen. Aber er war heil geblieben und auch nicht allzu stark versandet.
Als das Wetter ruhiger geworden war, hatte der Taucher Hansen aus Cuxhaven versucht, das Schiff zu bergen. Auch während ich dort weilte, arbeitete er daran. Sein Bergungsdampfer, ein kleineres, doch stark gebautes, eisernes Schiff, lag vor Trischen. Da nun die See wieder grob wurde und Brandung aufkam, konnte er sich draußen nicht mehr halten und mußte zunächst die Versuche an dem Wrack aufgeben.
Die Männer waren mit mir zusammen bei dem Pächter zu Besuch, und bei einem dampfenden Grog - denn draußen war es kalt und ungemütlich - fragten sie mich, ob ich nicht mit ihnen nach Cuxhaven wolle. Ich war mit meinen Arbeiten fertig und hatte bei dem Wetter keine andere Gelegenheit, von der Insel so vorteilhaft wegzukommen. Zudem war die Verbindung von Cuxhaven nach Hamburg besonders günstig, und außerdem versprach eine Fahrt mit einem Bergungsdampfer sehr interessant zu werden. So sagte ich mit Freuden zu.
Ich baute in Wind und Sandtreiben meinen Einer und mein Zelt ab, und eh ich mich umdrehen konnte, hatten die raschen, starken, schweigsamen Gesellen meine Sachen ergriffen und waren mit ihrem Brandungsboot hinaus zum Dampfer gerudert. Das Boot tanzte abenteuerlich, und ich erwartete, es jeden Augenblick kentern zu sehen. Aber es kam an, und ich sah, wie meine Sachen an Bord gereicht wurden.
Wir gingen, um noch einen Abschiedsgrog zu trinken. Eine halbe Stunde später aber hatte der Wind doch so zugenommen, daß der Taucher zum Aufbruch drängte. Ich hatte vor der Fahrt an Bord regelrecht Angst, die nicht dadurch gemildert wurde, daß mir der Pächter Räubergeschichten von der Tollkühnheit des Tauchers und seiner Männer zuflüsterte.
Wir gingen zum Strand hinunter, wo uns Sand und Salzschaum ins Gesicht flogen, daß wir halbblind ans Wasser kamen. Einer der Männer nahm mich wie eine Puppe in den Arm und trug mich ins Boot. Die andern, alle in hohen Wasserstiefeln, hielten es, denn es wollte sich jedesmal im Gischt der heranschießenden Brecher losreißen.
Alle sprangen gleichzeitig hinein. Es ging in Sekundenschnelle. Kein Befehl wurde laut, er wäre im Getöse der Brandung auch nicht zu vernehmen gewesen. Die Ruder schlugen die Flut. Dann wurde das Boot vorne hochgeworfen, und schon donnerte der erste Brecher über uns hinweg, der uns völlig durchnäßte. Aber ich sah unter den triefenden Südwestern und über dem glänzenden Ölzeug nur lachende braunrote Gesichter. Noch einige Brecher kamen, bei denen ich jedesmal dachte, wir würden kentern. Endlich war die erste Brandungszone überstanden. Gleich darauf saßen wir schon in der zweiten. Sie schien mir wesentlich schlimmer; aber auch sie wurde überwunden.
Nun waren wir am Dampfer; doch auch hier waren nur weißgischtende Brecher und riesige gelbgraue Wogenberge. Mir war es wieder unklar, wie wir an Bord kommen sollten. Hoch über uns hing die Schiffswand. Plötzlich packte uns eine Woge, hob uns empor, und im Augenblick hatten wir die Reling dicht neben uns. Diesen Augenblick benutzte einer, um sich an Bord zu schwingen. Gleich darauf waren wir wieder tief unten. Als sich die nächste Woge heranwälzte, wiederholte sich das. Eben hatte noch dunkel, hoch und drohend die Bordwand des Dampfers über uns gestanden. Ruckartig wurden wir emporgeschleudert, und mit einem Male sah ich das Deck des Dampfers neben, ja, sogar unter mir. In diesem Augenblick wurde ich von kräftigen Fäusten gepackt und wie. ein Paket an Deck geworfen. Als ich auf den Füßen stand, tanzte das Boot wieder tief unten.
Dann waren alle oben und es ging los. Die Anker wurden bei laufender Maschine gehievt, der Dampfer rollte und stampfte nicht schlecht. Immer wieder wuschen Wogen über das Deck, und alle Augenblicke stand eine wehende weiße Gischtfahne am Steven. Die Maschine arbeitete nicht auf voller Kraft. An beiden Seiten standen Männer und loteten. In dieser Wirrnis von Sandbänken und Rinnen unmittelbar vor der Wattkante, die sich immer ändern und die unmöglich genau zu vermessen sind, ist es äußerst schwierig zu fahren. Der Taucher kannte die größeren Rinnen, die uns hinüber in die Elbmündung führen sollten, zwar genau, aber im Sturm und durch die starke Abdrift, in Wind, Gezeitenströmung, Wellen und bei dem unsichtigen Wetter war es, das habe ich erst hinterher erkannt, eine tollkühne Fahrt auf Tod und Leben. Jeden Augenblick konnte der Dampfer auflaufen und stranden.
Und dann gab es auch schon einen harten Stoß von unten, daß ich taumelte. Der Kapitän schrie irgend etwas. Gleich darauf gab es wieder einen Stoß - und noch einen. Das Schiff krachte in allen Fugen. Noch einige Erschütterungen folgten. Dann waren wir wieder flott und glitten weiter. Einen Augenblick blickte sich Hansen nach mir um und zeigte mir sein breites lächelndes Gesicht. Seine Augen strahlten vor Zufriedenheit. Dann wandte er sich scharf nach vom und schaute wieder gleichsam lauernd mit überwachen Sinnen um sich. Noch dreimal mußten wir solche Sandbankzonen überqueren. Jedesmal lief die Maschine auf halber Kraft, warfen uns die Wellen hin und her, und zweimal hatten wir wieder Grundberührung, daß ich dachte, das Schiff müsse auseinanderplatzen.
Dann waren wir in der freien Elbmündung, dampften an dem Feuerschiff "Elbe IV" vorüber, das in dem Seegang wie betrunken hin- und hertorkelte, und steuerten Cuxhaven an. Nachdem die fürchterliche Spannung der letzten Stunden nachgelassen hatte, hatte ich nun noch Muße genug, das Gesicht dieses Taucherkapitäns zu betrachten. Er erschien mir wie ein Nachkomme der alten Wikinger oder wie ein echter Seeräuber - fest, sicher, tollkühn und wagemutig. Die See war sein Reich - gerade da, wo sie am gefährlichsten ist.
Ich mußte an die Geschichten denken, die mir der Pächter erzählt hatte, an seine tollsten Bergungsabenteuer. Ich sah ihn vor mir, wie er mit seinen Leuten den von allen ändern Bergungsunternehmen aufgegebenen dänischen Dampfer ,Skagen', der in der Scharhörnbrandung gestrandet war, abzuschleppen suchte. Immer wieder riß die Stahltrosse und immer wieder brauste sein kleines Schiff heran, und die Männer befestigten sie von neuem. Schließlich dampften sie zurück, um neue Trossen zu holen. Als sie wiederkamen, war das Schiff bereits geborsten. Da sprangen seine Leute auf das durch die ungeheuren Brecher rasch weiter zerfallende Wrack und bargen noch einen großen Teil der wertvollen Ladung, jeden Augenblick in der Gefahr, mit den letzten Trümmern in die Tiefe gespült zu werden.
Und dann dachte ich daran, wie der große deutsche Dampfer "Maria Suhr" brennend auf dem großen Vogelsand gestrandet war. Der Mahlsand arbeitete und begann, das Wrack rasch in die Tiefe zu saugen. An ein Abschleppen war nicht zu denken. Es waren eine ganze Reihe von Bergungsschiffen dabei, die das sterbende Schiff wie Geier das Aas umkreisten, um zu retten, was zu retten war. Da brauste Hansen heran. Unmittelbar an der stellenweise schon glühenden Bordwand hielt er. Wie die Katzen kletterten er und seine Männer an ihr empor und verschwanden in dem Flammenmeer der brennenden Decks. Und inmitten der prasselnden feurigen Lohe bargen sie viel von den Schätzen, die im Schiffsrumpf ruhten. - Hunderttausende hatte Hansen so verdient. Aber es ging ihm nicht ums Geld. Es war ihm der bedingungslose herrlich freie Einsatz seines Lebens zum höchsten Daseinsglück geworden."
Sie schauten wieder in die glänzende, lichte Weite. "Man kann es kaum glauben", meinte Inge, "wieviel Grauen, Schrecken, Angst und Todesfurcht diese friedliche Wasserfläche vor uns gesehen hat. Und in dieses unheimliche Gebiet", fügte sie mit einem halben Lachen hinzu, "wollt ihr mich armes unschuldiges Mägdelein verschleppen?!"
"A propos, unschuldig!" antwortete Heio und versuchte, seinen Mienen eine gewisse inquisitorische Schärfe zu verleihen. "Wer hatte eigentlich mit dem Österreicher kürzlich allein Elbfahrten unternommen? Ich halte das für Verrat an unserm Dreibund."
"So, während ihr mit euren dicken Universitätsferien euch wochenlang in der Welt herumtreiben könnt, soll ich wohl als braves Kind nur an Damenkaffeekränzchen teilnehmen dürfen? Das könnte euch Egoisten so passen. Nee, mein Lieber, meine Sonntagsfahrten laß ich mir doch nicht nehmen!" Jan schaute das empörte Mädchen an und freute sich über ihre frische Schärfe in der Stimme und hatte ein beruhigendes Gefühl der Zusammengehörigkeit. "Wie bist du denn eigentlich zu dem gekommen, Inge?"
Sein gleichgültiger Ton schien sie zu versöhnen. "Ach, weißt du, ich zeltete auf Falkentaler Sand zwischen den Weiden und wachte am frühen Morgen von einem mörderischen Geschimpfe in einem südlichen Dialekt auf. Als ich neugierig meinen Kopf aus dem Zelteingang steckte, bot sich mir ein urkomischer Anblick. Die Flut war fast bis zur üblichen Hochwassergrenze aufgelaufen. Mitten im Wasser stand ein Zelt, in dem es gräßlich rumorte und herumschrie. Als der Zeltverschluß endlich den hastigen Bemühungen aus dem Innern nachgab und sich öffnete, zeigte sich ein junger Mann in einem Trainingsanzug, dessen Kehrseite völlig durchnäßt war. Er riß schleunigst sein Zelt ab und brachte seine Sachen auf das Trockene. Mein lachendes Gesicht ärgerte ihn, und seine Bemerkungen über unsere "unchristliche Landschaft" wurden noch deutlicher. Er hatte natürlich von den Gezeiten nichts gewußt und war buchstäblich im Wasser liegend aufgewacht. Ich lud ihn zum Tee ein und versuchte, ihm die besonderen Eigenschaften unserer Heimat schmackhaft zu machen. Als er sich beruhigt hatte, zeigte er sich den Eindrücken dieser ihm fremden Welt durchaus offen und erkannte ihre Größe an. Ich wollte ihm später auch das Watt zeigen, aber auch wir sind nur bis etwas unterhalb von Brunsbüttelkoog gekommen. Wir haben da unsere Zelte auf dem Neufelder Deich errichtet.
Am ändern Morgen, als wir noch schliefen, kam ausgerechnet eine Deichbesichtigungskommission mit einem hohen Regierungsvertreter. Der Rentmeister geriet in furchtbaren Zorn, als er auf dem Deich zwei Zelte stehen sah. Er nahm unsere Personalien auf und drohte mit polizeilicher Verfolgung. Das südliche Temperament Gustels führte zu einer explosiven Szene, wobei die gegenseitigen Drohungen erfreulicherweise nur halb verstanden wurden, da sie in zweierlei Zungen sprachen. Ich sah ja ein, daß die Deichkrone durch eingeschlagene Zeltpflöcke nicht verletzt werden darf, aber der Beamte war in seinem übertriebenen Eifer doch reichlich komisch. Tatsächlich erschien eine Woche später bei uns im Hause ein Polizeibeamter, um mich zu "vernehmen". Er schmunzelte aber, als er die Geschichte hörte." Die ändern beiden lachten auch über dieses Abenteuer Inges. "Donnerwetter", sagte Jan, "die Ebbe ist schon wieder eingetreten. Wir müssen uns beeilen."

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